Eduards Traum - Abschnitt 6

Dieser Vater, so scheint’s, hatte bereits den Gipfel der ehelichen Zärtlichkeit erklommen, wo die Schneeregion anfängt. Ich flog ins Nachbarhaus. Der Landmann, welcher hier wohnte, war ein Onkel des vorigen. Soeben mit dem Stabe in der Hand, von einem erfolgreichen Besuche der Schenke zurückkehrend, betrat er das Zimmer, wo ihn seine zahlreiche Familie voller Spannung erwartete. Er warf seinen Hut auf die Erde und rief: “Wer ihn aufhebt, kriegt Hiebe; wer ihn liegen läßt, auch!” Er war ein höchst zuverlässiger Mann. Er hielt sein Wort.
Ach, meine Lieben! Wie oft im Leben wirft uns das Schicksal seinen tragischen Hut vor die Füße, und wir mögen tun, was wir wollen, Verdruß gibt’s doch. Ich flog ins Nachbarhaus. Im Kuhstall, den er soeben gereinigt, steht ein denkender Greis. Er schließt die Luke. “Merkwürdig!” sprach er und stützte das Kinn auf die Mistgabel. “Merkwürdig! Wenn man die Klappe zumacht, daß es dann dunkel wird!” Und so stand er noch lange und dachte und dachte; als ob es nicht schon Sorgen genug gäbe in der Welt, auch ohne das. Und es war sehr düster in diesem Kuhstalle. Ich flog ins Nachbarhaus. Die hübsche, stramme Bäuerin hat ihr hübsches, strammes Bübchen auf dem Schoge liegen, sein Gesichtchen nach unten gekehrt. Sie lüftet ihm das Hemdchen; sie reibt ihm den Rücken; er strampelt mit den Beinen vor lauter Behagen. “Oh, tu tu tu mit tein klein ticken tinketen Popösichen!” so ruft sie in mütterlich-kindischem Stoppeldeutsch; und während sie dies tut, gibt sie dem Herzensbengel bei jedem Worte einen klatschenden Schmatz auf die rosigen Hinterbäckchen.

Ach, meine Freunde! Wieviel Liebes und Gutes passiert uns doch in der Jugend, worauf wir im Alter nicht mehr mit Sicherheit rechnen dürfen! Ich flog ins Nachbarhaus. Ein zehnjähriger Junge kommt grad aus der Schule, und noch ganz rot vor Begeisterung ruft er: “Hör mal Vater! Unser Schulmeister hat aber einen ganz verflixten Stock. Hier vorne schlägt er hin und da hinten kneift es!!” Dieser heimtückische Stock stammte vermutlich aus der nämlichen Hecke, wo die abscheulichen Menschen ihre ironischen Gerten schneiden, die auch immer so hintenherum kommen. Ein treuherziger Mensch tut so was nicht. –
Ich flog – doch der Abwechslung wegen will ich lieber mal sagen: ich schwirrte. Ich schwirrte ins Nachbarhaus. Im wohnlichen Stübchen voll sumsender Fliegen steht das tätige Mütterlein. Sie sucht Fliegenbeine aus der Butter, die sie demnächst zu kneten gedenkt; denn Reinlichkeit ist die Zierde der Hausfrau. Aber ihr Stolz ist die Klugheit. Mit mildem Kartoffelbrei füllt sie die Butterwälze, denn morgen ist Markttag in der Stadt. Ich schwirrte ins Nachbarhaus. Des Bauern Töchterlein sitzt am Klavier. Es klopft. “Sind der Herr Vater zu Hause?” so fragte der Hammelkäufer. “Bedaure sehr!” erwiderte sie zierlich. “Papa fährt Mist!” Ein erfreuliches Beispiel frisch aufblühender Bildungsverhältnisse, die noch etwas von dem kräftigen Duft des humushaltigen Erdreichs an sich haben, worauf sie gewachsen sind. Ich schwirrte ins Nachbarhaus. Ein altes, ehrwürdiges Gebäude.

Der Besitzer schien etwas zerstreut zu sein. Er hält eine lange Unschlittkerze in der Hand, umwickelt sie unten mit Werg, das er mit Petroleum tränkt, steigt damit unters Dach, stellt sie sorgsam ins Stroh, zündet sie an, greift zu Hut und Stock, schließt das Tor und geht über Feld. Solche Art Leute, dacht’ ich, sind doch zuweilen recht unvorsichtig. Ich flog dem Manne ans Ohr und warnte ihn; nicht aus Mitleid, sondern bloß um zu zeigen, daß er der Dümmere und ich der Gescheitere sei. Ich war nicht vorhanden für ihn. Es war klar. Durch die Konzentration meines Innern unter Zurücklassung des Äußeren hatte ich die Fähigkeit zum Wechselverkehr mit der gewöhnlichen Menschheit verloren. Ich schwirrte ins Nachbarhaus. Und dies war das Wirtshaus. Am Haupttische tranken sich drei lustige Gesellen zu. Sie können wohl lachen. Sie haben in der Frühe drei handfeste Meineide abgeliefert und bereits wieder drei neue in Akkord gekriegt. Am Tisch im Winkel saß ein bescheidener Wandersmann. Nachdem er langsam aber gründlich seine Mahlzeit beendigt, steht er auf, um zu zahlen. Er läßt sich auf ein falsches Fünfmarkstück herausgeben und entfernt sich mit einem herzlichen “Gott befohlen”. Auch ich machte, daß ich wegkam, und sah mal zu, was auf der Landstraße passierte.

Schlicht und sinnig, den Korb gefüllt mit den Produkten seiner Kunstfertigkeit, wandelte des Weges daher der Besenund Rutenbinder. Wie’s das Geschäft so mit sich bringt, denkt er viel nach über die Erziehung des Menschengeschlechts. Sein Blick ist zur Erde gerichtet. Infolgedessen hat er Gelegenheit, einen Gegenstand zu bemerken, den der flüchtige Beobachter vermutlich für nichts weiter angesprochen hätte als einen Roßapfel in gedrückten Verhältnissen. Doch der aufmerksame Naturfreund, gewohnt, stets scharf zu prüfen, was vorkommt, erkannte sofort sein eigentliches Wesen. Es ist ein braunledernes Portemonnaie. Er blickte umher, und da die Wetteraussichten ringsum günstig sind, hebt er’s auf und läßt es sanft in das Rohr seines Stiefels gleiten. “Da wird er nicht dümmer nach!” so sprach er bedeutsam im wohlwollenden Hinblick auf den, der’s verloren, und in Erwägung der oft so heilsamen Folgen eines gehabten Verlustes. Und schon kommt der Doktor dahergeritten, und zwar im Galopp. Er fragt, ob nichts gefunden sei. “Nein, Herr!” entgegnete der Besenknüpfer mit überzeugender Mimik und fort sprengt der Doktor mit ängstlicher Schnelligkeit. So hatte der Weise einem seiner unerfahrenen Mitmenschen eine wertvolle Lehre gespendet, ohne ihn in die peinliche Lage zu bringen, sich bedanken zu müssen. Er konnte aber auch, nachdem er eine gute Tat verrichtet, zugleich mit dem angenehmen Bewußtsein nach Hause zurückkehren, daß dieselbe nicht unbelohnt geblieben, was sonst so selten ist; und daß er sich auch fernerhin ein enthaltsames Schweigen auferlegt haben wird, das darf man ihm bei seinen Fähigkeiten wohl zutraun.
An der Gegend, über der ich schwebte, konnte ich nicht viel Rares finden. Doch auf die Gegend kommts nicht an; denn, wie die Tante zu sagen pflegt: “Wer nur das richtige Auge hat, kann überall einen reizenden Blick” haben. So ging’s auch dem gebildeten Landwirt, der mir auf der Straße entgegenkam. Er hatte seine Kartoffeln besichtigt. Sie standen prachtvoll. Durch seine transparenten Ohren scheint die verklärende Abendsonne. Er ist glücklich. “Oh, wie schön ist doch die Welt!” ruft er schwärmerisch. “Oh, so schön! So schön! A a!”

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